Eine historische Alternative zur liberalen Ordnung als Ganzer findet Alasdair MacIntyre in der antiken Polis. Zur Annäherung hieran müssen wir noch einmal auf MacIntyres Traditionsbegriff zurückkommen
In „Whose Justice? Which Rationality?“ hatte MacIntyre Tradition beschrieben als ein über die Zeit ausgedehnter Streit, in dem die grundlegenden Übereinstimmungen definiert und redefiniert werden in 2 Arten von Konflikten:
1. mit äußeren Kritikern und Feinden einer Tradition
2 . internen Debatten über das eigene Selbstverständnis1
In After Virtue bietet er ein umfassenderes Bild seines Traditionsbegriffes.
Hier behandelt MacIntyre die Frage persönlicher Identität, deren Relevanz in der Zuordnung von Verantwortung über die Spanne eines Menschenlebens liege und die nur Sinn ergebe, wenn man von einem Menschenleben nicht als einer Aneinanderreihung unzusammenhängender Ereignisse ausgehe, wie dies Empiriker wie John Locke oder David Hume sowie ihre Nachfolger tun, sondern von einer erzählerischen Einheit. Hinsichtlich dieser Einheit könne man dann auch fragen, ob sie gelungen sei oder nicht und nach welchen Kriterien dies zu entscheiden sei. Diese Frage zu stellen und sie in Gemeinschaft zu diskutieren – hier deutet sich MacIntyres Traditionsbegriff aus „Whose Justice? Which Rationality?“ an – sei dabei bereits selbst Bestandteil des gelungenen Lebens.2
Die eigene Lebensgeschichte lässt sich demnach aber nur erzählen, deuten und entweder als gelungen oder misslungen bewerten, wenn sie als eingebettet in eine übergeordnete erzählerische Einheit, einer Tradition, verstanden wird, zu der man sich positioniert.
Eine solche Tradition ist Trägerin von Praktiken, die zu einem gelungenen Leben beitragen sollen. Sowohl die Praktiken als auch die Tradition bedürfen der Pflege bestimmter Tugenden für ihre Bewahrung und Weiterentwicklung. Grundtugenden in diesem Sinne sind Gerechtigkeit (dazu gleich mehr), Tapferkeit und Ehrlichkeit (dazu auch gleich mehr).
Praktiken in diesem Sinne sind mit intrinsischen Gütern beschäftigt, die nur durch sie realisiert werden können. In diesem Sinne ist das intrinsische Gut des Hausbaus das gebaute Haus. Es gibt schlicht keine Häuser unabhängig von der Praxis, sie zu bauen.
Mit solchen Praktiken notwendig verbunden sind Institutionen, welche sie tragen, etwa die Baufirma. Diese Institutionen wiederum sind mit extrinsischen Gütern wie Macht, Geld und Ansehen befasst. Dies begründet eine Ambivalenz in der Beziehung von Praktiken und Institutionen.
Näher wird dieses Verhältnis in „Whose Justice? Whose Rationality?“ beschrieben. Statt von intrinsischen und extrinsischen Gütern spricht MacIntyre hier allerdings von Qualitäten der Exzellenz und der Effektivität.3
Praktiken hängen für ihr anhaltendes Bestehen von Institutionen ab, die wiederum für ihr Bestehen und Funktionieren Macht und Geld brauchen. Andererseits lassen sich Macht und Geld ganz ohne jene Qualitäten der Exzellenz nicht erwerben. Um beim Beispiel des Hausbaus zu bleiben: Eine Hausbaufirma, die sich nicht auf den Bau von Häusern versteht, wird nicht lange bestehen können.
Es hat jedoch praktische Auswirkungen, welchen Gütern man den Vorrang gibt. Wird der Tüchtigkeit – also der Exzellenz in einer bestimmten Praxis – der Vorzug gegeben, schadet der Betrüger vor allem sich selbst, da er sich um die Möglichkeit einer ehrlichen Beurteilung seiner Exzellenz und damit der Möglichkeit eines hierauf aufbauenden weiteren Forschritts bringt.
Dagegen schadet der Betrüger, der Effektivität den Vorzug einräumt, falls er erfolgreich ist, anderen, insofern es ihm gelingt, Macht, Geld oder Ansehen durch Betrug zu erwerben, die ihm gemäß seiner Exzellenz nicht zustünden und die zugleich anderen vorenthalten werden, denen sie aufgrund ihre Exzellenz zustünden.
Hier wird noch ein weiterer Aspekt deutlich: Qualitäten der Effektivität – Geld, Macht, Ansehen – sind ihrer Natur nach begrenzt. Erlangt sie der eine, entbehrt sie der andere. Qualitäten der Exzellenz sind dagegen letztlich gemeinsame Güter. Vom Fortschritt in der Exzellenz des einen kann auch der andere profitieren, indem er von ihm lernt. Der Vorrang der Qualitäten der Effektivität bedingt also eine uneingeschränkte Konkurrenz. Beim Vorrang der Qualitäten der Exzellenz steht die Konkurrenz um die je höhere Exzellenz im Dienst einer übergeordneten Kooperation, insofern der Erfolg des einen die Exzellenz aller fördert.
Stehen Qualitäten der Exzellenz im Vordergrund zielt Strafe auf Erziehung. Der Bestrafte soll durch sie zu größerer Exzellenz geführt werden. Die Strafe muss daher so konzipiert sein, dass sie diesem Ziel dient. Stehen Güter der Effektivität im Vordergrund zielen Strafen dagegen auf Abschreckung und müssen dementsprechend konzipiert werden.
Im Diskurs werden im ersten Fall an und für sich gute Gründe gesucht, im zweiten Fall solche Gründe, die das Gegenüber überzeugen.
Im ersten Fall geht es um das Gemeinwohl, im zweiten um das, was an Eigeninteressen durchsetzbar ist, wobei man zugleich an das Eigeninteresse der anderen appelliert, um diese für die je eigene Sache zu gewinnen.
Beide Ordnungen haben überlappende Tugenden, mit jedoch je eigenen Bedeutungen.4
Man kann sagen: Den Qualitäten der Effektivität den Vorrang einzuräumen, ist die Entscheidung für das technokratische Paradigma, die Verabsolutierung der Material- und Wirkursachen – konzentriert in Geld, Ansehen, Macht – bei Negation der Finalursachen, den Zwecken und Zielen, denen diese eigentlich zu dienen haben.
Wir können hier leicht erkennen, wie für MacIntyre die herrschende liberale Ordnung durch einen Vorrang der Qualitäten der Effektivität bestimmt ist. In der Ökonomie ist das extrinsische Gut des Geldes ausschlaggebend, in der Politik das extrinsische Gut der Macht und des Ansehens.
Demgegenüber stehen Plato, Aristoteles und die auf sie zurückgehende Tradition für einen Vorrang der Qualitäten der Exzellenz. Für Aristoteles wählt der gute Mann das Edle um seiner selbst willen, nicht das Nützliche oder Angenehme. Mit anderen Worten: Er zieht die intrinsischen Güter den extrinsischen, die Qualitäten der Exzellenz jenen der Effektivität vor. Allerdings: Was dem guten Mann als nützlich oder angenehm erscheint ist nach Aristoteles auch etwas ganz anderes als im Fall des lasterhaften Menschen, das heißt jenes Menschen, der die Güter der Effektivität, Macht, Geld, Ansehen (und so muss man hier ergänzen: Genuß) vorzieht, kurz: des, wie wir sehen werden, liberal sozialisierten Menschen. Denn es handelt sich in beiden Fällen um eine Folge der Bildung bzw. ihres Fehlens. Erziehung – die für Aristoteles eine Erziehung in den Tugenden ist – beinhaltet für ihn Meisterung, Disziplinierung und Transformation der Begierden und Gefühle. Erst Tugenderziehung ermöglicht die Ausübung der Tugenden als Selbstzweck und um der eudaimonia willen. Nur die Tugend erlaubt uns zu verstehen, weshalb ein solches Leben das bestmögliche ist. Doch ohne dieses Wissen ist rationales Urteilen und Handeln unmöglich. Unerzogen in den Tugenden zu sein heißt unfähig zu sein, zu beurteilen, was gut ist.5
Hier kommt nun die Polis ins Spiel. Denn in ihr ist nach MacIntyre Aufgabe der Politik nicht die Aufrechterhaltung eines äußerlichen Friedens durch das immer wieder neue Aushandeln von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Machtgruppen. Aufgabe der Politik ist es vielmehr, die verschiedenen – auf die Verwirklichung unterschiedlicher intrinsischer Güter gerichteten – Aktivitäten – sprich: Praktiken – der Bürger und deren Belohnung oder Vergütung mit extrinsischen Gütern – Geld, Macht, Ehre – so zu ordnen, dass alle ein gelungenes – und das heißt für Aristoteles wesentlich ein tugendhaftes, ein exzellentes – Leben führen können.6 Die Polis fungiert sozusagen als Meta-Institution einer spezifischen Tradition.
Die beste Polis ist nach Aristoteles dabei jene, in der die Besten regieren und Tugend belohnt wird. Demokratie und Oligarchie sind für ihn irrational, insofern erstere allen dasselbe zuteilt und letztere auf Besitz oder Geburt basierend zuteilt. Aristoteles präferiert die Bestenherrschaft, die Aristokratie. Dies lässt ihn Bauern, Händler, Handwerker und Frauen ausschließen.7
MacIntyre argumentiert gegen den Ausschluss von Frauen, anerkennt aber, dass unterschiedliche Berufe tatsächlich auch unterschiedlich für das Regieren disponieren. Er erwähnt Thomas Jefferson, der den Kleinbauern als besonders geeignet ansah, und Dante, der den Banker als besonders ungeeignet ansah. MacIntyre folgert daraus, dass für die Frage nach der besten Polis die Beschäftigtenstruktur relevant ist, ohne näher darauf einzugehen.8
Zweitens sei die Verfassung der besten Polis nach Aristoteles hierarchisch, da in ihr die Bürger in der Ausübung der Tugenden geschult würden. Es sei eine Hierarchie des Lehrens und Lernens, nicht irrationaler Beherrschung.9 Aristoteles betrachtet das Leben in der Polis dabei gegliedert nach Altersstufen:
die Kindheit
die Jugend
die (jungen) Erwachsenen
das Alter
Die ersten 2 Stufen brauchen Erziehung in den Tugenden, die jungen Erwachsenen (Männer) müssen Militärdienst leisten und später (4.) verschiedene öffentliche Ämter ausüben.10
Auf all diesen verschiedenen Stufen allerdings müssen sie wissen, was von ihnen jeweils erwartet wird, worin die entsprechende Tugend liegt. Es muss klar sein, wie Leistung belohnt und Fehler sanktioniert werden. Gerechtigkeit spielt dabei überall eine Rolle. Um gerecht beurteilen zu können, wann eine Tugend zu belohnen und wann ihr Fehlen zu sanktionieren ist, muss man die jeweilige Tugend besitzen; ja alle anderen auch, um sie in ein gerechtes Verhältnis zueinander setzen zu können.11
Außerhalb der Polis kann der Mensch nach Aristoteles daher nicht gerecht sein. Es ist erst die Bildung und Disziplin der Polis, welche die Bedürfnisse und das Verlangen des Menschen in Einklang mit der Gerechtigkeit bringen. Außerhalb der Polis ist der Mensch daher eher wie ein Tier. Aus diesem Grund sind auch nicht alle Bedürfnisse von Menschen gleich gültig, wie die Utilitaristen behaupten, sondern es zählen nur die in der und durch die Polis kultivierten. Im Hintergrund stehen der divergierende Naturbegriff von Sophisten und Aristoteles. Für die Sophisten ist Natur das empirisch Feststellbare. Für Aristoteles ist es der Zustand des verwirklichten telos, der Mensch in seiner bestmöglichen Entfaltung.12
Die Folge: Die rationale Beurteilung des Tugendlebens innerhalb der Gemeinschaft der Polis ist nur denen verfügbar, die bereits mehr oder weniger an diesem Leben partizipieren. Die eigentlichen Adressaten der Nikomachischen Ethik sind daher erfahrene Bürger einer Polis. Nur sie können sie wirklich nachvollziehen.13
Für uns Heutige, die wir nicht in einer Polis im platonisch-aristotelischen Sinne, sondern in einer liberalen, die Qualitäten der Effektivität präferierenden, dem technokratischen Paradigma folgenden Ordnung leben und geformt werden, bedeutet dies, dass wir aus der Sicht des Aristoteles wie Platos de facto intellektuelle, ethische und politische Barbaren sind, wie groß unser rein technologischer Fortschritt und unser materieller Wohlstand auch sein mag. Die liberale Ordnung verwirklicht in diesem Sinne nicht keine Bildung, sondern lediglich keine Bildung in den Tugenden der Exzellenz, stattdessen in den Tugenden der Effektivität. Für Aristoteles ist das jedoch tatsächlich keine Formation, keine Bildung im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Deformation.
MacIntyre argumentiert allerdings auch, dass die philosophische Gemeinschaft – wie von Sokrates begründet und von Plato in der Akademie institutionalisiert – einen gewissen Ersatz für die Polis bieten kann.14 Hier eröffnet sich also ein Grund zur Hoffnung für all jene unter uns, die sich nicht mit dem Status (post)modernen Barbarentums zufrieden geben wollen.
Eine nähere Bestimmung dessen aber, wie eine solche Polis heute organisiert sein müsste, findet sich später in MacIntyres „Dependent Rational Animals – Why Human Beings Need the Virtues“, dem wir uns als nächstes zuwenden.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Gerald Duckworth & Co. Ltd, London 2001, S. 12.
Hierzu und zum Folgenden vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue, S. 237ff.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, S. 30ff.
Vgl., ebd.
Vgl. ebd., S, 108 – 111.
Vgl. ebd., S. 33f, 106f.
Vgl. ebd., S. 104.
Vgl. ebd., S. 104f.
Vgl. ebd., S. 105f.
Vgl. ebd., S. 106.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd., S. 96 – 98.
Vgl. ebd., S, 108 – 111.
Vgl. ebd., S. 98f.