Wie wir gesehen haben, bezeichnet Alasdair MacIntyre das Projekt der Aufklärung bzw. der Moderne eine universal gültige und anerkannte Moral zu begründen, in „Whose Justice? Which Rationality?“ als „Liberalismus“. Die Verwendung dieses Begriffes begründet MacIntyre de facto damit, dass das Ziel dieses Projekts darin bestünde, das Individuum als solches aus den Bindungen an Traditionen durch die Berufung auf universell gültige Prinzipien zu emanzipieren. Diesem moralphilosophischen Projekt entspreche eine bestimmte politische und soziale Ordnung, eben die liberale, in der Traditionen – etwa solche religiöser Natur – nur geduldet werden, insofern sie ihren jeweiligen Universalanspruch aufgeben und sich als subjektive, also letztlich irrationale, Präferenzen ohne Auswirkungen auf den öffentlichen Raum neu erfinden.
Die Religionsfreiheit erscheint vor diesem Hintergrund als eine Illusion, eine Täuschung, insofern Religionen nur geduldet werden, wenn sie ihren Wahrheitsanspruch aufgeben, also gerade das, was sie als Religion auszeichnet. Diese Pseudo-Religionsfreiheit der liberalen Ordnung deckt somit nur die äußere Hülle der Religion ab, ihre Riten und Frömmigkeitspraktiken, insofern diese keine Relevanz für das soziale und politische Leben beanspruchen. In dieser Ordnung gibt es nur Individuen und Gruppen mit ihren jeweiligen Präferenzen, wobei Gruppen Ansammlungen von Individuen mit gemeinsamen Präferenzen sind.
Dies folgt aus der dem technokratischen Paradigma entsprechenden Negation von Finalursachen und damit von objektiven Zielen und Zwecken, die sich aus einer menschlichen Natur ergeben und deren Gehalt Gegenstand einer rationalen Auseinandersetzung sein können. Was stattdessen bleibt sind eben jene subjektive und letztlich irrationale Präferenzen, über die eine rationale Auseinandersetzung ausgeschlossen ist. Konflikte zwischen unterschiedlichen Präferenzen werden daher durch Aushandeln geklärt, wobei die Präferenzen nach den dahinter stehenden Machtmitteln gewichtet werden – politisch nach Wählerstimmen, im Markt nach der Kaufkraft. Letztlich gilt also das Recht des Stärkeren, wobei es das Verdienst der liberalen Ordnung ist, dass sich der Stärkere zur Durchsetzung nicht direkt der Anwendung oder Androhung von Gewalt bedienen muss, da für ihn stellvertretend die liberale Ordnung selbst in Form des Gewaltmonopols des Staates durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt jene Verfahrensregeln im politischen und ökonomischen Bereich garantiert, die dem Stärkeren die Durchsetzung seiner Präferenzen ermöglichen. Lediglich die Relativität der jeweiligen Stärke stellt sicher, dass sich keine Seite uneingeschränkt durchsetzt und in der Regel am Ende Kompromisse stehen. Theorien versuchen in einem nicht endenden, weil inhärent nicht zielführenden, Diskurs zu klären, was dabei als gerecht zu gelten habe. Die verbindliche Letztentscheidung treffen dabei die Gerichte. Die Juristen seien der neue Klerus. Wer sich an Markt und Politik in der liberalen Ordnung beteiligt, anerkennt damit die liberalen Prämissen und reduziert die eigenen Überzeugungen auf Präferenzen – also ultimativ Geschmacksfragen. So werden sie jedenfalls unweigerlich wahrgenommen und behandelt. Ein inhaltlich definierbares Gemeinwohl, eben eine Finalursache des Gemeinwesens selbst, existiert nicht. Es ist vielmehr – ganz wie Nawroth es für den Neoliberalismus beschreibt – die Summe der Präferenzen der Individuen und der von diesen gebildeten Gruppen bzw. der Fortbestand der liberalen Ordnung selbst als Garant der Möglichkeit, die je eigenen Präferenzen auszudrücken bzw. durchzusetzen. Traditionen, die eine hiervon abweichende Konzeption von Gemeinwohl haben, etwa der politische Islam, müssen liberalerseits bekämpft werden. Der Masse bleibt damit lediglich die Wahl zwischen verschiedenen Optionen. Sie wird auf diese Weise dazu erzogen, hierin die wahre Freiheit zu erblicken und ihre eigenen subjektiven und letztlich irrationalen Präferenzen als nicht weiter hinterfragbare Entscheidungskriterien anzusehen. Die wahre Macht liegt derweil bei der Elite, die entscheidet, welche Optionen es überhaupt gibt.1
Der politische Diskurs ist damit kein Ringen um eine inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls – das wie gesehen schlicht in der Summe der faktisch vorhandenen Präferenzen plus dem Fortbestand der liberalen Ordnung selbst besteht – sondern, wie schon ausgeführt, ein Bürgerkrieg mit anderen Mitteln; der Versuch, mit rhetorischen Mitteln die Gegenseite nach den eigenen Vorstellungen zu manipulieren und auf diese Weise in dem zu findenden Kompromiss so viel wie möglich, für sich selbst herauszuschlagen.
In der Praxis, so MacIntyre, wird hierbei in den meisten Fällen mit einem – aus der modernen Moralphilosophie abgeleiteten – rechtebasierten Individualismus – das liberale moralphilosophische Projekt zielt ja auf die Emanzipation des Individuums – oder der – aus dem Anspruch der Sozialwissenschaften abgeleiteten – Nützlichkeit bürokratischer Organisation argumentiert. Es ist just jene falsche Dichotomie aus Individualismus und Kollektivismus, von der Nawroth als Resultat der Zurückweisung aristotelischer Philosophie sprach. Linke und Rechte unterscheiden sich demnach nur darin, dass erstere im ökonomischen Bereich die Vorzüge der bürokratischen Organisation anführen und im Sexualbereich einem rechtebasierten Individualismus das Wort reden, während Rechte genau andersherum argumentieren.2
Diese Frontlinien ziehen sich jedoch auch durch die meisten der jüngeren gesellschaftlichen Großkonflikte, wobei etwa die Befürworter der Corona-Maßnahmen mit der Nützlichkeit bürokratischer Organisation argumentierten, die Kritiker mit einem rechtebasierten Individualismus, die Befürworter von Klimaschutzmaßnahmen mit der Nützlichkeit bürokratischer Organisation (etwa der eines Verbrennerverbots oder einer Wärmepumpenpflicht), deren Kritiker mit einem rechtebasierten Individualismus (so etwa das Recht, ein Auto mit Verbrennermotor zu kaufen und die Heizungsart selbst wählen zu dürfen), in der Flüchtlingskrise einerseits mit einem schier grenzenlosen Vertrauen in die bürokratische Organisation (“Wir schaffen das!”), andererseits mit der dadurch drohenden Gefährdung eigener Rechte, etwa auf Wohlstand oder Sicherheit, sowie schließlich die Befürworter (bürokratische Organisation) und Gegner (die Rechte der einzelnen Staaten) einer weitergehenden europäischen Integration.
Da der Konflikt zwischen rechtebasiertem Individualismus und dem utilitaristischen Argument für bürokratische Organisation sich ebenso wenig argumentativ auflösen lässt, wie die Gegensätze zwischen den verschiedenen modernen Moralphilosophien, die diesem Konflikt zu Grunde liegen, gibt es abgesehen vom zumindest zeitweise totalen Sieg einer der beiden Seiten – etwa den Maßnahmebefürwortern während der Corona-Pandemie – in der Regel nur die Lösung in Form eines von den momentanen Machtverhältnissen abhängigen Kompromisses zwischen beiden Positionen. In der Praxis wird die liberale Ordnung daher von einem bürokratischen Individualismus regiert,3 bei dem die Bürokratie und die sie leitende Managerschicht in den Dienst der Emanzipation des Individuums aus sämtlichen Bindungen gestellt wird und dabei und hierzu immer mehr Macht bei sich selbst konzentriert. Die zuvor erwähnte Elite, bei der die wahre Macht liegt, sind also die öffentlichen und privaten Bürokratien und die diese leitende Managerschicht.
Vgl., Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Gerald Duckworth & Co. Ltd, London 2001, S. 335 – 345.
Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue, Bloomsbury Academic, London – New York – Dublin 2011, S. 40.
Ebd.
Du beschreibst hier eher die Probleme einer demokratischen Regierungsweise als den Liberalismus (m.M.). Politiker sind wegen dem minimalprinzip gezwungen , für Wähler Versprechen zu treffen und werden deswegen gewählt . Wohingegen ein liberaler , in dessen Mittelpunkt die Idee des Individualismus bzw. Die individuelle Entscheidungsfreiheit steht, Dem Wähler nichts verspricht . Da der einzelne für sein Wohl und Wehe sorgt .
Ansonsten interessante Analyse !