Wie bereits beschrieben ist für Alasdair MacIntyre das Projekt der Moderne an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert. Den eigentlichen Todesstoß hat ihm nach MacIntyre aber eine geistesgeschichtliche Bewegung gegeben, die er in „Whose Justice? Which Rationality“ unter den Begriffen Relativismus und Perspektivismus anführt, in „Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition“ als Genealogie bezeichnet und die in Friedrich Nietzsche ihren Begründer hat. Gemeint ist hiermit natürlich die Postmoderne. Diese zieht aus dem Scheitern der Moderne am Versuch der Entdeckung einer wirklich universell anerkannten Moral und Vernunft die Schlussfolgerung, dass es tatsächlich weder Moral noch Vernunft gebe. Die Rede von beidem maskiere vielmehr einen unpersönlichen Willen zur Macht. Die Philosophiegeschichte sei demnach eine Abfolge der Repression (nämlich dieses unpersönlichen Willens zur Macht). Diese will die Genealogie durch Subversion überwinden und so den unpersönlichen Willen zur Macht freilegen und freisetzen. Das Genre, dessen sie sich hierfür bedient, ist der Aphorismus und die Prophetie, wie sie Nietzsche praktiziert habe. Nach dieser Sicht gibt es weder Wahrheit noch Gut und Böse, nur unterschiedliche Pespektiven. Der Genealoge bedient sich für sein Projekt der Subversion unterschiedlicher, rein temporärer Masken. In welchem Verhältnis er selbst zu diesen Masken und diesem Projekt steht, ja ob es ihn hinter diesen Masken überhaupt gibt, ist nach MacIntyre die große offene Frage dieses postmodernen Projekts. Dabei argumentiert der Genealoge nicht, denn dies wäre ein Appell an die von ihm negierte Vernunft. Stattdessen macht er lächerlich. Auf diese Weise ist es der Postmoderne gelungen, das Projekt der Moderne nachhaltig zu diskreditieren. Niemand glaube noch ernsthaft an deren Postulate. Der Universitätsbetrieb – und allgemein unsere Ordnung – funktioniere jedoch weiter so als ob wir es täten.1
Zugleich haben sich jedoch die Genealogen, wie MacIntyre am Beispiel Foucaults aufzeigt, vom Universitätsbetrieb domestizieren lassen. Außerhalb dessen wären sie irrelevant und vom Diskurs ausgeschlossen geblieben – in ihm jedoch müssen sie für ihr Mitwirken just jene Voraussetzungen der liberalen Moderne übernehmen, die sie eigentlich überwinden wollen. Letztlich steht aber der Postmoderne als Postmoderner außerhalb jeglichen rationalen Diskurses, schlicht, da es just dieser ist, den er seiner Position gemäß ablehnt.2
Relativismus und Perspektivismus – die beiden Bestandteile der Postmoderne – sind nach MacIntyre dabei nichts weiter als Inversionen des Aufklärungsrationalismus. Beide negieren bzw. ignorieren die Rationaliät von Traditionen. Der Aufklärungsrationalismus behauptet eine abstrakte, universelle, d.h. traditionslose, Rationalität. Relativismus und Perspektivismus erklären, dass wenn und da dieser Anspruch des Aufklärungsrationalismus scheitert
a) rationaler Diskurs zwischen einzelnen Traditionen unmöglich ist (Relativismus), da hierfür eine gemeinsame, sprich: universelle, Grundlage fehle und daher auch
b) keine Tradition einen (allgemein gültigen) Wahrheitsanspruch erheben kann (Perspektivismus)
Relativismus und Perspektivismus – sprich: die Postmoderne – sind damit nicht Gegner und nicht allein Kritiker, sondern vor allem Erben und Vollender der Aufklärung bzw. der liberalen Moderne.3
Rationalität und Moral der Tradition
Wider den Positionen von Enzyklopädie und Genealogie, von Moderne und Postmoderne, Aufklärung und Nitzscheanismus führt Alasdair MacIntyre eine Position ins Feld, die er Tradition nennt.
Nach MacIntyre ist eine Tradition ein über die Zeit ausgedehnter Streit, in dem grundlegende Übereinstimmungen definiert und redefiniert werden in 2 Arten von Konflikten:
mit äußeren Kritikern und Feinden einer Tradition
internen Debatten über das eigene Selbstverständnis4
Traditionen können sich spalten – beispielsweise in katholische und protestantische Christenheit – oder auch eine Synthese bilden.5
Die Tradition negiert sowohl die von der Moderne behauptete Ungeschichtlichkeit von Vernunft und Moral als auch die prinzipielle Negation von Vernunft und Moral durch die Postmoderne. Sie geht vielmehr – im Einklang mit der Materialität und damit Geschichtlichkeit des Menschen selbst – von der Geschichtlichkeit von Vernunft und Moral aus. Die Reflektion über beide hat demnach einen kontingenten historischen Anfang und entwickelt sich dann weiter im Rahmen einer spezifischen Tradition. Innerhalb der Tradition bauen ihre Angehörigen dabei bewusst auf ihren Vorgängern auf, deren Hinterlassenschaft sie zu verbessern trachten. Der Einstieg in eine Tradition erfolgt über Lehrer, die sich selbst erfolgreich eine Tradition angeeignet haben und dadurch über eine Autorität verfügen, der die Schüler Vertrauen schenken. Jede Tradition wahrt dabei ihre Integrität dadurch, dass sie einen einigermaßen klar umrissenen Rahmen besitzt und über Möglichkeiten verfügt, jene auszuschließen, die sich außerhalb dieses Rahmens bewegen.6
Die Ironie der Geschichte liegt, so MacIntyre just darin, dass der Liberalismus bzw. die Moderne, die angetreten sei im Bestreben, eine traditionslose oder -freie Moralphilosophie zu schaffen, am Ende zu einer eigenen Tradition geworden ist.7
Alle Traditionen dieser Art wurden zu wirklichen Formen sozialer Praxis, die mehr oder weniger verwirklicht wurden und nur so gelebt werden können. Sie können allerdings in anderen sozialen Räumen leben als in jenen, in denen sie entstanden sind, etwa der griechischen Polis, vorausgesetzt die mit ihnen verbundene Praxis ist zumindest zu einem gewissen Grad möglich.8
Zwischen unterschiedlichen Traditionen gibt es, so MacIntyre im Widerspruch zur Moderne, keinen neutralen dritten Standpunkt, von dem diese her beurteilt werden könnten.9 Hieraus folgen, so MacIntyre im Widerspruch zur Postmoderne, aber nicht Skeptizismus und Relativismus. Eine Tradition erweist sich vielmehr einer anderen Tradition gegenüber als überlegen, wenn sie sich als fähig erweist, deren Probleme aufzulösen sowie das Auftreten dieser Probleme in dieser spezifischen Tradition und deren Unfähigkeit, sie aufzulösen, zu erklären, während diese Tradition umgekehrt in Bezug auf die überlegene Tradition dies nicht vermag.10 Voraussetzung hierfür ist immer, die jeweils andere Tradition von innen heraus zu verstehen, wie dies etwa Thomas von Aquin sowohl für Aristotelismus als auch für Augustinismus gelang.11
Dies waren zwei unabhängige Traditionen dieser Art, die einmal über Sokrates und Plato zu Aristoteles lief und zum anderen die biblische Tradition, welche für die lateinische Christenheit in Augustinus ihre spezifische Form annahm.12
MacIntyre arbeitet hierbei unter anderem die Kontinuitäten zwischen Plato und Aristoteles heraus.13 Der vermeintliche substantielle Gegensatz zwischen Plato und Aristoteles gehe auf die spezifisch neuplatonische Interpretation Platons zurück. In Wahrheit sei Aristoteles der authentische Vollender des platonischen Systems, dem es gelungen sei, die Defizite der platonischen Denkens zu überwinden – nicht ohne freilich selbst offene Fragen zurückzulassen.
Die herausragende Leistung des Thomas von Aquin lag, so MacIntyre weiter,14 darin, dass er in einen Dialog mit allen ihm vorausgehenden Traditionen trat und sich hierbei mit ihren jeweils besten Argumenten auseinandersetzte, sie bewertete und daraus eine Synthese erschuf, welche die Stärken der jeweiligen Traditionen miteinander verknüpfte und so ihre jeweiligen Schwächen überwandt. Was Thomas von Aquin auf diese Weise schuf war weniger ein in sich abgeschlossenes System – das große Ideal der Aufklärung – als eine Methode, die den Anspruch erhebt, andere Traditionen in die eigene integrieren zu können. Das dementsprechende Genre der Tradition ist die disputatio, das gelehrte Streitgespräch, wie es an den mittelalterlichen Universitäten gepflegt wurde.15
Der Ansatz von Thomas von Aquin selbst fand allerdings keinen Platz im mittelalterlichen universitären Lehrplan und wurde infolge marginalisiert. Das Resultat war ein Zerbrechen der thomistischen Synthese in in sich defizitäre Bruchstücke, wie man sie etwa im Denken von Thomas Hobbes oder Martin Luthers finden kann.16
Im 19. Jahrhundert war der Thomismus infolgedessen noch stärker marginalisiert als er es heute ist. Die damalige Theologie stand nach MacIntyre vor demselben Dilemma wie heute: entweder nicht mehr christlich sein oder aber philosophisch inkongruent. Dies war Folge der Versuche, christliches Denken als kombatibel mit modernen Denkansätzen wie jenen Kants zu erweisen.17
In dieser Zeit erwuchs aus den Reihen der Jesuiten eine Bewegung zur Wiederbelebung des Thomismus, die im Episkopat auf ähnliche Gegenliebe stieß wie heute, aber schlußendlich in Aeternis patris von Leo XIII. gipfelte.18 Diese thomistische Renaissance scheiterte schließlich daran, dass viele der Neuthomisten den hl. Thomas, anders als Aeternis patris, nicht als den Begründer einer Methode der Tradition begriffen, sondern als Begründer eines in sich abgeschlossenen, letztlich statischen Systems; als jemanden, der die Anliegen der Aufklärung besser als diese gelöst habe. Dieser Neothomismus wurde so eine weitere Subströmung der Moderne und zerfaserte sich folgerichtig wie diese in verschiedene, untereinander inkompatible Strömungen.19 Das Scheitern dieses Neothomismus, zu dem MacIntyre unter anderem Jacques Maritain zählt und der ab dem 2. Vatikanischen Konzil gegenüber anderen theologischen Strömungen an Relevanz verlor – erklärt sich demnach nach MacIntyre damit, dass er zu modern war, dass er dem urspünglichen Ansatz des Thomas von Aquin untreu wurde. Daneben anerkennt MacIntyre jedoch durchaus thomistische Ansätze im 20. Jahrhundert, die Thomas von Aquin die Treue hielten, wie etwa jener Etienne Gilsons.20
In „Whose Justice? Which Rationality?“ schließt MacIntyre mit der Feststellung, dass Aristoteles die von Sokrates und Plato begründete Tradition am adäquatesten formuliert hat. Sowohl Thomas von Aquin als auch die schottischen Calvinisten des 17. Jahrhunderts hätten sodann den Versuch unternommen, eine Synthese von Aristotelismus und Augustinismus zu schaffen. Doch während letztere der Kritik David Humes erlegen seien, stünde der Thomismus nach wie vor unüberwunden da und erscheint so zumindest bislang als die beste Artikulation einer Synthese von aristotelischem und augustinischem Denken. Daher sei es auch eine Tradition, die begründet selbstbewusst auftreten könne.21
Vgl. Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition being Giffords Lectures delivered in the University of Edinburgh in 1988, University of Notre Dame Press, Notre Dame Indiana, USA 2012, S. 32ff.
Vgl. ebd., S. 219f.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Gerald Duckworth & Co. Ltd, London 2001?, S. 351 – 353.
Vgl. ebd., S. 12.
Ebd.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition being Giffords Lectures delivered in the University of Edinburgh in 1988, University of Notre Dame Press, Notre Dame Indiana, USA, 2012, S. 58ff.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, S. 326ff.
Vgl. ebd., S. 349, 390f.
Vgl. ebd., S. 350.
Vgl., ebd., S. 349ff.
Vgl. ebd., S. 164ff.
Vgl., ebd., S. 69 – 163.
Vgl. ebd., S. 88ff.
Vgl. ebd., S. 164ff.
Vgl. ebd., S. 206.
Vgl. ebd., S. 206 – 208.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition, S. 71f.
Vgl. ebd., S. 72f.
Vgl. ebd., S. 72 – 81.
Vgl. ebd., S. 77.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Gerald Duckworth & Co. Ltd, London 2001, S. 401 – 403.