Charakteristisch für das Denkens Alasdair MacIntyres und im klaren Widerspruch zu jeglichen gnostizistischen Tendenzen ist seine Betonung der Materialität des Menschen.
Diese Betonung äußert sich zunächst und vor allem darin, dass MacIntyre hervorhebt, wie sehr der Mensch an Zeit und Raum gebunden ist. Er betont mit anderen Worten, als ehemaliger Marxist, die Geschichtlichkeit als spezifischen Ausdruck der Materialität des Menschen. Der Mensch, so könnte man MacIntyre zusammenfassen, ist als ein materielles Wesen essentiell ein historisches Wesen und als solches – auch und gerade in seiner Moral und seinem moralischen Denken – getrennt von seiner Historie nicht zu begreifen.
Hieraus folgt MacIntyres entschiedene Ablehnung einer strikten Trennung von Philosophie und Philosophiegeschichte.1 MacIntyre betont, dass philosophisches Denken nicht intelligibel ohne, aber zugleich auch nicht reduzierbar sei auf den historischen Kontext seines Entstehens. Es reflektiert diesen und bietet die Möglichkeit, ihn zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.2
Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein wesentlicher Bestandteil seines Schaffens als Moralphilosoph die Auseinandersetzung mit der Moralphilosophiegeschichte ist.
Als Ursprung der gegenwärtigen moralphilosophischen, aber auch ethischen und politischen, Situation sieht MacIntyre den Sieg des technokratischen Paradigmas; die Zurückweisung aristotelischer Teleologie, nach der Werte zu den Fakten zählen und sich objektiv aus dem telos des Menschen, seiner Finalursache, bzw. seiner Natur ergeben. Aus dem Sein folgt für den Aristoteliker ganz selbstverständlich das Sollen. Ein naturalistischen Fehlschluss existiert für ihn nicht.3
Aus der Sicht so unterschiedlicher neuzeitlicher Moralphilosophen wie Diderot, Hume, Kant und Kiergegaard bedeutet die Zurückweisung aristotelischer Teleologie demgegenüber einen Gewinn an menschlicher Autonomie.4 Es geht also sozusagen um eines der großen Charakteristika und Bestreben der Neuzeit, wie sie Guardini beschreibt: die Emanzipation des Individuums.
Die Konsequenz ist allerdings, dass der naturalistische Fehlschluss als real erscheint. Sein und Sollen fallen im Denken der Anhänger des technokratischen Paradigmas auseinander – und ebenso ihre wissenschaftliche Erforschung. Die Erforschung des faktischen menschlichen Verhaltens wird Gegenstand der Sozialwissenschaften, die Untersuchung des ethischen Sollens Gegenstand der von ihr geschiedenen Moralphilosophie.5
Das Projekt der Aufklärung
Was dabei die moderne Moralphilosophie in aller ihrer Disparität eint, ist das Bestreben, losgelöst von allen Bezügen zu einer menschlichen Natur eine allgemein akzeptierte und damit universell gültige Ethik zu entwickeln bzw. zu finden, also eine von der Historizität und damit der Materialität des Menschen entkoppelte, letztlich gnostizistische Moralphilosophie, die das Individuum aus Bindungen an partikulare Traditionen emanzipiert. In „After Virtue“ nennt MacIntyre dies das Projekt der Aufklärung.6 In „Whose Justice? Which Rationality?“ spricht er bezüglich desselben Vorhabens allgemein von „Liberalismus“, wobei er den Begriff nicht in einem engen parteipolitischen Sinne verwendet, sondern eben als Synonym für Aufklärung bzw. Moderne.7
In „Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition“ beschreibt er schließlich dieses Projekt am Beispiel der 9. Ausgabe der Encyclopedia Britannica. In deren Weltsicht sind Vernunft und Moral sowohl unpersönlich als auch überzeitlich. Sie haben daher beide keine Geschichte und sind allen vernünftigen Menschen zu allen Zeiten in gleicher Weise zugänglich. Rationale Einigungen sind daher immer möglich. Nur Aberglaube steht dem entgegen. Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist ein unaufhaltsamer Fortschritt, wobei die Vergangenheit lediglich als – letztlich vernachlässigbarer – Prolog gegenwärtiger Errungenschaften angesehen wird. Träger dieses Fortschritts ist das kartesianische Subjekt, das aus Zeit und Raum herausgelöste Individuum, das gnostische Selbst ohne Geschichte und ohne Persönlichkeit – geradezu idealtypisch hierzu der „Schleier des Nichtwissens“ von John Rawls –, das auf sich selbst gestellt und losgelöst von jeder geistigen Tradition allein durch eigenes Nachdenken diesen Fortschritt hervorbringt. Die Wissenschaften unterscheiden sich nicht in ihrer Methodik, sondern allein in ihrem Gegenstand. Sie fügen sich zu einem architektonischen Gebilde zusammen. Die Enzyklopädie ist ihre Kartographie. Das Genre dieser Sicht ist die Vorlesung, in welcher der Professor als Subjekt den Studenten als Objekten die Welt erklärt, das heißt die Enzyklopädie – auszugsweise – referiert.8
Faktisch muss dieses Projekt der Moderne bzw. der Aufklärung als gescheitert gelten. Den Vertretern dieses Projekts – Kantianern, Utilitaristen, Gesellschaftsvertragstheoretiker jeglicher Couleur – ist es nicht einmal gelungen, untereinander Einigkeit zu erzielen. Ihre größten Erfolge hatten sie im Aufzeigen der Lücken der jeweils konkurrierenden Theorien innerhalb desselben Projekts. Eine allgemein akzeptable und damit universell gültige Ethik scheint nicht in Sicht.9
Aus der Perspektive MacIntyres kann es freilich auch gar nicht anders sein. Eine von Raum und Zeit unabhängige Moral kann es nicht geben, da es keine von Raum und Zeit unabhängige Menschen, das heißt keine unhistorischen Menschen gibt. Menschen sind historische Wesen, sie sind leiblich, materiell, und das gilt auch für ihre Vernunft und Moral.
Die faktische Konsequenz dieses Scheiterns ist jedoch, dass Fragen der (Individual)Moral als rational nicht allgemein verbindlich entscheidbar, als letztlich auf subjektive – und irrationale – Präferenzen zurückführbar erscheinen – als Geschmacksfragen, über die man bekanntlich nicht streiten kann. Moral wird infolge – ähnlich wie Religion – zur Privatangelegenheit und verschwindet aus dem öffentlichen Raum. Der Philosoph und speziell der Moralphilosoph verliert an sozialer Relevanz und wird zum Bewohner einer universitären Nische.1010
Im politischen Raum wird gleichzeitig – rein performativ? – dennoch an der Wahrheit der eigenen moralischen Ansprüche festgehalten, ohne diese freilich begründen zu können. Tatsächlich sind sie nichts anderes als der Ausdruck subjektiver Präferenzen, die der einzelne vor sich selbst ebensowenig zu rechtfertigen vermag wie vor dem anderen. Ethische – und in Konsequenz politische – Debatten können angesichts der Unmöglichkeit, einander zu überzeugen, daher nichts anderen sein als der Versuch, den anderen dahin gehend zu manipulieren, die eigenen subjektiven Präferenzen zu übernehmen; ein Umstand, der vielleicht nirgendwo so transparent ist wie in Online-Debatten. Protest und das Äußern moralischer Entrüstung werden im Bestreben, andere emotional zu manipulieren, zu den dominanten Stilmitteln des politischen Diskurs. Politik selbst wird vor diesem Hintergrund zu einem Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Dass dieser schlussendlich in physische Gewalt umschlägt ist nichts anderes als eine Frage der Zeit, sofern kein grundsätzliches Umsteuern gelingt.11
Vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Gerald Duckworth & Co. Ltd, London 2001, S. 390ff.
Vgl. ebd.
Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue, Bloomsbury Academic, London – New York – Dublin 2011, S. 62f, 96 – 99.
Vgl. ebd., S. 71f.
Vgl. ebd., S. 96.
Vgl. ebd., S. 43ff.
Vgl., Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, S. 326ff.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition being Giffords Lectures delivered in the University of Edinburgh in 1988, University of Notre Dame Press, Notre Dame Indiana, USA 2012, S. 9ff.
Vgl. Alasdair MacIntyre, unter anderem After Virtue, S. 43 – 74.
Vgl. Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry – Encylopedia, Geneology and Tradition, S. 227.
Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue, S. 85f, 283 – 295.