Das SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 aus aristotelisch-thomistischer Sicht
Eher Kant als Aristoteles
Es folgt eine Bewertung des SPD-Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2025 aus aristotelisch-thomistischer Sicht. Anmerkung: Die Bewertung gilt dem Entwurf zum Wahlprogramm vom 18.12.2024. Das endgültige Wahlprogramm kann hiervon Abweichungen enthalten.
Struktur des Wahlprogrammes der SPD zur Bundestagswahl 2025
Das SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 zerfällt abzüglich Einleitung und Schluss in 4 Teile:
Ein neuer Aufschwung für Deutschland (15 Seiten)
Beschäftigte und ihre Familien entlasten (19 Seiten)
Sich in Deutschland sicher und zuhause fühlen (16 Seiten)
Unsere internationale Verantwortung in der Zeitenwende (9 Seiten)
Auf den ersten Blick fällt auf, dass die ersten beiden Teile mit dem Versprechen von Wirtschaftswachstum und finanziellen Entlastungen geradezu neoliberal klingen. Es entsteht der Eindruck als kündige sich hier bereits eine große, neoliberale, antiaristotelische Koalition mit der CDU an.
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell sichtbar, dass die Entlastung speziell den Beschäftigten, also wohl den Arbeitnehmern, und ihren Familien gelten sollen; eine deutlich andere Akzentsetzung als die CDU, die mit ihren Entlastungen gerade auch die Unternehmen im Blick haben.
Allgemein ist festzuhalten, dass Wirtschaftswachstum eine rein quantitative Größe ist. Als solche bedarf sie einer Zielorientierung. Aus aristotelischer Perspektive stellt sich daher die Frage nach der Finalursache des Wirtschaftswachstums. Welchem Zweck, welchem telos soll es dienen? Eine Antwort hierauf bietet unter Umständen das Ziel Nummer 2, die Entlastung der Beschäftigten.
Es wirkt, als würden in den Augen der Sozialdemokraten die Beschäftigten und ihre Familien durch materielle Armut an einem guten Leben gehindert; eine materielle Armut, der durch Wirtschaftswachstum und Entlastung der Betreffenden begegnet werden soll. Nun besteht kein Zweifel daran, dass aus aristotelisch-thomistischer Sicht unfreiwillige materielle Armut ein Hindernis hinsichtlich des guten Lebens darstellt (vgl Aristoteles, Politik 1254a). Ob für breitere Schichten in Deutschland – und explizit breitere Schichten der Beschäftigten – jedoch tatsächlich diese Art Armut das größte oder auch nur ein Hindernis bezüglich des guten Lebens darstellt und ob nicht etwa eine mangelnde Tugenderziehung weit schwerer wiegt, wäre die Frage.
Ziel 3 besteht bemerkenswerterweise in der Erzeugung eines Gefühls oder von Gefühlen. Gefühle allerdings sind Begleiterscheinungen des guten wie des schlechten Lebens und taugen daher nicht selbst als Ziele; vor allem lösen ein- und dieselben Ereignisse bei tugendhaften wie lasterhaften Menschen höchst unterschiedliche emotionale Reaktionen hervor, wie Alasdair MacIntyre betonte (vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Whose Rationality?, Kapitel 7) Dass sie im SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 dennoch zu einem Ziel erklärt werden, zeugt von jenem Emotivismus, den Alisdair MacIntyre bereits vor über 40 Jahren kritisiert hat (vgl. ders. in After Virtue) und der den Anspruch einer rationalen Ethik (und Politik) durch subjektive Präferenzen ersetzt.
Ziel 4 schließlich anerkennt die Verantwortung des deutschen Gemeinwesens gegenüber der Weltgemeinschaft und damit dem globalen Gemeinwohl. Hiermit ist ein Wort gefallen, das uns hinüber führt zu einer genaueren Untersuchung des Wahlprogrammes der SPD zur Bundestagswahl 2025.
gutes Leben, Gemeinwohl und Gerechtigkeit im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025
Drei Mal nimmt die SPD in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 Bezug auf das gute Leben, um dessen willen nach Aristoteles der Staat besteht (Politik 1252b 29).
Auf Seite 15 erklärt sie, dass nur durch heutige Investitionen das gute Leben auch für künftige Generationen möglich werde. Auf Seite 20 verspricht sie für Arbeit zu kämpfen, die ein gutes Leben ermöglicht. Auf Seite 49 nennt sie klimagerechte Städte, lebendige Dörfer und eine moderne Infrastruktur den Schlüssel zu einem guten Leben überall in Deutschland.
Die SPD befasst sich also ganz explizit mit den materiellen Voraussetzungen eines guten Lebens. Aus aristotelisch-thomistischer Perspektive gehören zum guten Leben aber natürlich auch eine integrierte Sexualität, das politische Leben sowie das theoretische bzw. kontemplative, also dem Streben nach Weisheit gewidmete, Leben. Inwiefern diese Aspekte des guten Lebens ebenfalls von der Sozialdemokratie berücksichtigt werden in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 kann erst anhand einer Tiefenanalyse beurteilt werden.
Sieben Mal fällt im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025 der Begriff Gemeinwohl, nach Aristoteles das telos der Politik (Politik 1282b 14-18).
Die SPD fordert, dass Bodennutzung und Gesundheitsversorgung am Gemeinwohl ausgerichtet werden sollen. Zweimal fällt der Begriff Gemeinwohl im Kontext der Forderung nach einer besonderen Besteuerung sog. Superreicher, die auf diese Weise stärker an der Finanzierung des Gemeinwohles beteiligt werden sollen. Die KI-Förderung soll nach dem Willen der SPD gezielt auf die Förderung von gemeinwohlorientierten Projekten ausgerichtet werden, ohne dass näher bestimmt würde, wodurch sich eine solche Orientierung spezifisch ausdrücken solle. Schließlich nimmt die SPD Bezug auf die gemeinwohlorientierte Sparte der Deutschen Bahn: die DBInfraGO, ohne hieraus jedoch weitergehende Schlüsse zu ziehen. Hier wird deutlich, dass das Gemeinwohl von der SPD prinzipiell als normgebend anerkannt wird. Seine inhaltliche Bestimmung bleibt jedoch vage und puktuell, die faktische Bedeutung gering.
Der Begriff der Gerechtigkeit bzw. Wortbildungen mit -gerecht fallen 46 mal. Gerechtigkeit – nach Aristoteles das primäre telos der Politik, dessen Konkretisierung das Gemeinwohl ist ( Politik 1282b 14-18) – erscheint so – aus aristotelischer Perspektive vollauf zurecht – als einer der Zentralbegriffe des sozialdemokratischen Programms zur Bundestagswahl 2025.
Aufgrund seines so häufigen Vorkommens muss eine nähere Untersuchung des Vorkommens dieses Begriffes auf die Tiefenanalyse des Wahlprogramms der SPD zur Bundestagswahl 2025 verschoben werden.
Tiefenanalyse
An erster Stelle im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025 steht wie gesehen das Versprechen von Wirtschaftswachstum. Eine zentrale Rolle sollen hierbei Investitionen in die Infrastruktur des Landes spielen. Der Finanzierung soll eine Kombination aus Umgehung und Aufweichung der Schuldenbremse des Grundgesetzes dienen. Die SPD wirbt sehr offensiv für Schuldenpolitik als Konjunkturpolitik. Interessant in diesem Zusammenhang ist welche Umdeutung dem Begriff der Generationengerechtigkeit hierbei widerfährt. Wird Generationengerechtigkeit üblicherweise im Sinne eines sparsamen, schonenden Umgangs mit den augenblicklich vorhandenen Mitteln verstanden, so deutet die SPD sie um zu einer sittlichen Pflicht der heutigen Generation gegenüber den künftigen Generationen zum Schuldenmachen. Andernfalls würde man den künftigen Generationen „Investitionsschulden“ (S. 14) hinterlassen. Der Begriff der Pflicht fällt hier nicht explizit, ist aber der Sache nach deutlich erkennbar, was im weiteren Verlauf noch zusätzliches Gewicht erlangen wird. Außerdem seien Schulden gerecht, da jene sie bezahlen müssten, die von den so getätigten Investitionen auch profitierten. (ebd.)
An dieser Stelle ist zu bedenken, dass es grundsätzlich durchaus geboten sein kann, Schulden für Investitionen aufzunehmen. Es ist keine intrinsisch falsche, im Sinne von ungerechte, Politik, auch wenn sie natürlich primär zulasten von (primär kleinen und mittleren) Sparern und künftigen Generationen geht und daher gerechterweise durch Steuererhöhungen und Einsparungen an anderer Stelle flankiert und begrenzt werden müsste, um so die Belastungen möglichst (gerade auch generationen-)gerecht zu verteilen, auch wenn hierdurch natürlich jeglicher erhoffte konjunkturelle Effekt verpuffen würde, der aber auch aufgrund seiner Kurzfristigkeit kaum das übergeordnete Ziel von Schuldenaufnahmen sein kann. Ob in einer konkreten Situation Investitionen oder dem Vermeiden neuer bzw. zusätzlicher Schulden der Vorzug zu geben ist, ist daher eine Frage der (politischen) Klugheit, hinsichtlich der man legitimerweise unterschiedlicher Auffassung sein kann. Entsprechende Vorgaben des Grundgesetzes kommen einer Selbstverpflichtung des politischen Gemeinwesens gleich und sind daher selbstverständlich auch änderbar.
Wiewohl die SPD das Ziel verfolgt, das Wirtschaftswachstum zu fördern, so erhebt sie doch zugleich auch den Anspruch, „Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit miteinander“ zu verbinden (S. 3). Das Wirtschaftswachstum wird also nicht in neoliberaler Weise zum Selbstzweck oder alleinigen Ziel erhoben, sondern eingeordnet in einen weiteren Zusammenhang, der auch andere Aspekte des Gemeinwohls berücksichtigt, ohne dass dabei alledings der Bezug zum Gemeinwohl explizit hergestellt würde.
Hinsichtlich der Energiekosten verspricht die SPD dementsprechend auch keine pauschalen Preissenkungen, sondern stellt diese im Zusammenhang mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Aussicht, kurzfristig verspricht sie lediglich eine Deckelung. Wirtschafts- und Verbraucherinteressen sowie Klimaschutz werden so miteinander verknüpft. Die Bevorzugung besonders energieintensiver Branchen ist einerseits sozialpolitisch aus Rücksicht auf die betroffenen Arbeitnehmer nachvollziehbar, andererseits aber klimapolitisch kontraproduktiv. (S. 4) Hier wird viel von einer klugen Umsetzung abhängen.
Beim versprochenen Bürokratieabbau sollen „Arbeitnehmerrechte, Verbraucherrechte und Ziele des ökologischen Wandels nicht gefährdet werden“ (S. 6) Auch hier zeigt sich das Abwiegen verschiedener Aspekte des Gemeinwohls.
4 mal im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025 fällt der Begriff der Steuergerechtigkeit und hier liegt definitiv ein weiterer Fokus der Sozialdemokratie. Neben der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Finanzkriminalität (S. 16) strebt die SPD nach eigenen Angaben eine Entlastung von 95% der Einkommenssteuerpflichtigen an. (S. 21). Die Abgeltungssteuer soll abgeschafft und Einkommen aus Kapital wieder über den Einkommenssteuertarif besteuert werden. Die Vermögenssteuer soll wieder und eine Finanztransaktionssteuer neu eingeführt werden. Die Erbschafts- und Schenkungssteuer soll sozial gerechter gestaltet werden, so dass große Unternehmensvermögen angemessen besteuert werden. Schließlich unterstützt die SPD eine international koordinierte Mindeststeuer für Superreiche (Seite 16f). Die Maßnahmen sind die Antwort der SPD auf den von ihr beschriebenen Zustand, wonach das aktuelle Steuersystem Arbeitseinkommen relativ stark, Vermögen hingegen relativ schwach belaste, (S. 21) dem auf diese Weise entgegengewirkt werden soll. Der Frage der Steuergerechtigkeit als Dimension der Verteilungsgerechtigkeit – nämlich der Verteilung finanzieller Belastungen im Sinne des Gemeinwohles – kommt dabei auch aus aristotelisch-thomistischer Sicht nach Nawroth eine besondere Bedeutung zu.
Die SPD verknüpft die Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer sowie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer mit dem Thema der Chancengerechtigkeit, die auch nach Nawroth aus aristotelisch-thomistischer Perspektive von besonderer Bedeutung ist. (S. 13)
Die SPD muss jedoch zugleich deutlich machen: „Die Steuereinnahmen aus Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie Vermögensteuer stehen den Ländern zu, in deren Verantwortungsbereich die Bildungspolitik liegt.“ (S. 17) Ob die Steuereinnahmen also tatsächlich in ihrem Sinne verwendet werden, entzieht sich also dem Einfluss der SPD, sofern sie nicht auch in den Bundesländern (mit)regiert. Ganz grundsätzlich stellt sich hier aber auch die Frage, wenn schon die Bundesländer die besagten Steuereinnahmen erhalten und auch über deren Verwendung entscheiden – was im Sinne des Föderalismus ja grundsätzlich zu begrüßen ist – weshalb sie dann nicht auch über dessen Höhe in eigener Verantwortung entscheiden dürfen. Mutatis mutandis kehrt diese Frage auf der kommunalen Ebene wieder, wenn die SPD erklärt, die Länder seien dafür verantwortlich, „den Kommunen eine adäquate Finanzausstattung für die Bewältigung ihrer Aufgaben zukommen zulassen.“ (S. 15) Wenn die Kommunen gerechterweise eigene Aufgaben auszuüben haben, so kommt ihnen zweifellos ebenso das Recht zu, diese aus eigenen Einnahmequellen zu bestreiten und hierbei nicht abhängig zu sein von größeren Gebietskörperschaften.
Was hier als dringende Erfordernis der Gerechtigkeit in Erscheinung tritt ist eine grundlegende Entflechtung der Finanzierung von Bund, Ländern und Kommunen. Die SPD sagt hierzu nichts.
Für die Außenpolitik formuliert die SPD das Ziel einer friedlichen, gerechten und nachhaltigen Welt. Dies beinhaltet der Einsatz für eine regelbasierte Ordnung, Kampf gegen Hunger, Armut und Ungleichheit, Einsatz für soziale Sicherungssystem, eine Stärkung der WHO, eine Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030, das Bemühen um eine gerechtere Finanzarchitektur, ein Tausch der Verpflichtungen hoch verschuldeter Länder in Investitionen in eine soziale und ökologische Transformation, solidarische Initiativen zur Klimaanpassung sowie eine faire Beteiligung an der Klimafinanzierung. (S. 60 – 62) Die EU-Kohäsionspolitik soll bedarfsgerecht im Sinne des digitalen und ökologischen Strukturwandel umgebaut werden. (S. 16) Gegenüber Rußland und China fordert sie eine Politik, die von der Tugend der Besonnenheit geprägt ist (S. 55 und 59), eine Erwähnung der Komplementärtugend der Tapferkeit bleibt aus.
Eines der zentralen Themen staatlicher Politik in der aristotelischen Tradition ist Bildung und Erziehung (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1179b). Als Erziehungsziel nennt die SPD „selbstbestimmte und selbstbewusste Bürger“ (S. 25). Die Forderung der Sozialdemokratie, dass die Erziehung zum Leben in der politischen Gemeinschaft bereits in der Schulzeit aktiv und praktisch – d.h. auf dem Weg der Charakterbildung und nicht allein durch Wissensvermittlung – erfolgen muss (ebd.), entspricht der aristotelischen Position, wonach das politische Leben wesentlich zum Menschen als einem zoon politikon gehört (Aristoteles, Politik 1253a) und Charaktertugenden durch (frühe) Gewöhnung zu erfolgen hat (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1103a).
Demokratie, so die Sozialdemokraten richtigerweise, müsse erlernt werden (S. 38). „Wir fördern Bildungsangebote, die demokratische Werte vermitteln und Menschen befähigen, aktiv an der Demokratie teilzuhaben. Aus diesem Grund muss eine erlebbare Demokratie bereits im jungen Alter beginnen, sich in Schule und Betrieben fortsetzen, um Mitbestimmung und Verantwortung von Anfang an zu stärken.“ (ebd.) Entscheidend ist hier – neben der in diesem Kontext ebenfalls erwähnten historischen Bildung – die praktisch-ethische Dimension der Erziehung, die an dieser Stelle allerdings ohne Verweis auf politische Tugenden wie Bürgersinn und Gerechtigkeit auskommt.
Folgerichtig – und in Übereinstimmung mit der Feststellung von Aristoteles, wonach die Tugendbildung im Erwachsenenalter nicht aufhören darf (Nikomachische Ethik 1180a) – setzt sich die Sozialdemokratie auch für ein Mehr an betrieblicher Mitbestimmung (S. 9f) sowie die Einführung sog. Bürgerräte ein, die wie in der klassischen attischen Demokratie durch Losverfahren zu besetzen sind und deren Beratungsergebnisse in den parlamentarische Entscheidungsprozess miteinfließen sollen. (S. 39) Entscheidend wird hier bei der Umsetzung sein, dass alle Bürger die gleichen Chancen haben durch das Losverfahren ausgewählt zu werden und es keine Mechanismen gibt, die am Ende dazu führen, dass Parteien hier gezielt ihre Mitglieder platzieren, wodurch die Bürgerräte zu Echokammern der Bundestagsparteien verkommen würden.
So umfassend vordergründig die Gemeinsamkeiten zwischen aristotelischer politischer Theorie und sozialdemokratischem Programm erscheinen mag, so sehr darf hier jedoch nicht über die tieferliegenden Divergenzen hinweggegangen werden.
Im Gegensatz zu der aus aristotelisch-thomistischer Perspektive geforderten leistungsgemeinschaftlichen Ordnung spricht sich die SPD als traditionelle Verbündete der Gewerkschaften für eine Stärkung der Vermachtung des Arbeitsmarktes aus (S. 11 und 21). Hier zeigt sich erstmals ein prinzipiell liberales Politikverständnis der SPD, das die einzelnen Glieder der Gesellschaft – hier Arbeitgeber und Arbeitnehmer – nicht primär – im Rahmen der Leistungsgemeinschaften – hingeordnet sieht auf das Gemeinwohl, sondern als partikulare Interessengruppen, die am Verhandlungstisch um die größtmögliche Durchsetzung ihrer individuellen Eigeninteressen ringen. (vgl. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Whose Rationality?, S. 326ff) Entsprechend wird auch die Zuständigkeit für die Bewältigung des Strukturwandels nicht bei den Leistungsgemeinschaften gesehen, sondern beim Staat, der diesen durch Maßnahmen wie Kurzarbeit, Weiterbildungen, Beratung kleinerer und mittlerer Betriebe sowie die Öffnung von Transfergesellschaften für kleine Betriebe begleiten soll (S. 10).
Das Erziehungsziel der Autonomie stellt die Sozialdemokraten schlussendlich eindeutig in eine kantianische Tradition. In aristotelischer und noch mehr thomistischer Perspektive ist Autonomie kein Ziel an sich, ja kann es gar nicht sein, da der Mensch wesentlich zoon politikon ist; er ist nicht auf Autonomie hin angelegt, sondern auf das Leben in Gemeinschaft. (vgl. Aristoteles, Politik 1253a)
Die Rede von der Autonomie – der Selbstbestimmung – ergibt nur Sinn im Unterschied zur Heteronomie, der Fremdbestimmung. Autonomie ist wesentlich Freiheit von Fremdbestimmung. Ihr liegt damit der negative Freiheitsbegriff zugrunde wie er für die liberale politische Tradition charakteristisch ist. Der aristotelisch-thomistische Freiheitsbegriff ist demgegenüber wesentlich der positive einer Freiheit zu etwas, nämlich zur Entfaltung des inhärenten menschlichen Potentials gemäß der menschlichen Natur. Wo die Rede von der menschlichen Natur für Kantianer eine Einschränkung einer als Autonomie begriffenen, rein formalen Freiheit bedeutet, ist sie in der aristotelisch-thomistischen Tradition die inhaltliche Bestimmung materieller menschlicher Freiheit.
Wir haben schon gesehen, wie der Sache nach, wenn auch nicht nominell die Aufnahme von Schulden für Investitionen in die Infrastruktur geradezu kantianisch-deontologisch als eine sittliche Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen seitens der SPD begründet wurde. Am deutlichsten wirkt sich dieses Denken jedoch im Bereich der Ehe- und Familienpolitik aus.
Wo ein aristotelisch-thomistischer Ansatz das Kindswohl in den Fokus rücken würde, spricht das Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025 von Kinderrechten, die sie sowohl in das Grundgesetz aufnehmen (S. 25) wie auch zum Fixpunkt des Familienrechts (S. 26) machen will.
Die Konsequenzen sind weitreichend: Wie das individuelle Wohl nicht losgelöst vom Gemeinwohl betrachtet werden kann, so das Kindswohl nicht losgelöst vom Familienwohl und damit dem Wohl der Eltern. Das Kind wird hier zugleich in seiner Individual- wie Sozialnatur gesehen. Dienst am Wohl des Kindes bedeutet somit immer auch Dienst am Wohl der Familie, selbst wenn dies im Extremfall die (zeitweise) Trennung von Eltern und Kind verlangen mag. Rechte dagegen sind gegen andere durchzusetzen. Das Kind wird so auf seine Individualnatur reduziert und zugleich die Gemeinschaft der Familie durch den Rekurs auf individuelle Rechte auseinanderdividiert mit dem Staat als Interessenvertretung der Kinder und Schiedsrichter in einem. Die Familie erscheint hier nicht mehr als eine Gemeinschaft von Personen, deren Wohl wesentlich voneinander abhängt, sondern als eine Ansammlung von Individuen, die lediglich durch Rechte und diesen korrespondierenden Pflichten miteinander verbunden sind.
Dies schlägt sich wiederum unmittelbar im Familienbegriff der SPD nieder. „Familie – das ist dort, wo Menschen aufeinander achtgeben und füreinander einstehen wollen“ erklärt sie auf Seite 23. Die für die Familie wesenskonstitutive reproduktive und generationenübergreifende Dimension wird ausgeblendet. Hierher wird auch verständlich, weshalb sich die SPD zur demographischen Krise ausschweigt und den Fachkräftemangel allein über Qualifizierung, das Potential von Frauen in unfreiwilliger Teilzeit und Minijobs sowie die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland lösen will (S. 7, 12, 30).
Das „wollen“ im Familienbegriff der SPD macht wiederum deutlich, wie sehr Familie für die SPD von individueller Willkür, einer im Sinne Kants sicher missverstandenen Autonomie, (der Erwachsenen) abhängt. Die Familie wird so zu einer Art Verein, dem man nach Belieben bei- und bei dem man ebenso nach Belieben auch wieder austreten kann. Das Scheitern von Familien, das Zerbrechen von Ehen wird so bagatellisiert; die unmittelbar mitwirkenden Personen wie das Gemeinwesen als Ganzes der Verantwortung, dem entgegenzuwirken, enthoben. Was vom Kindswohl und dessen intrinsischer Verknüpfung mit dem Familienwohl her unvorstellbar ist, wird nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass hier die Kinderrechte schlicht geringer wiegen als das konkurrierende Recht auf Selbstbestimmung der Erwachsenen, das diese nach ihrer sozialdemokratisch inspirierten Erziehung zu Selbstbewusstsein auch selbstverständlich einfordern.
Dieser Linie, individuelle Autonomie statt naturrechtlicher Orientierung, folgend will die SPD desintegrierte und desintegrierende Formen der Sexualität explizit unter den Schutz des Grundgesetzes stellen und am Kindswohl vorbei desintegrierte und desintegrierende Lebensformen mit der Ehe zwischen Mann und Frau im Familien- und Abstammungsrecht gleichstellen. (S. 46) Folgerichtig bleibt beim Kampf gegen Menschenhandel der Einsatz gegen die Nutzung von “Leihmüttern“ im Ausland ebenso unerwähnt wie beim Kampf gegen sexuelle Ausbeutung das damit notwendig verbundene Verbot von sexueller Selbstausbeutung (S. 42).
Dieser – das Recht auf Autonomie der Erwachsenen gegenüber dem Kindswohl priorisierenden – Logik entsprechend fordert die SPD auch die Entkriminalisierung von Abtreibung (S. 45), ohne zu erklären, wie sie glaubwürdig Solidarität – einer ihrer weiteren Zentralbegriffe – von Besserverdienern gegenüber Geringverdienern einfordern will, wenn sie die grundlegendeste Solidarität – jene der Mutter gegenüber ihrem Kind – in einer solchen Weise verleugnet, ganz abgesehen von dem Selbstwiderspruch, der darin besteht, ausgerechnet dem Ungeborenen die Autonomie zu verweigern und ihn der extremsten Form der Fremdbestimmung – jener über Leben und Tod – auszuliefern. Ein Selbstwiderspruch ergibt sich auch, wenn die SPD einerseits verspricht, alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu bekämpfen (S. 38) und andererseits just die verwundbarste und mit jährlich über 100.000 gewaltsamen Todesopfern bedrohteste Menschengruppe in Deutschland jeglichen Schutzes berauben will. Vor allem aber positioniert sich die SPD damit auch in fundamentalem Widerspruch zu einer wahrhaft menschlichen Sexualität, deren telos in der Fortpflanzung besteht.
Fazit
In Übereinstimmung mit der aristotelisch-thomistischen Philosophie richtet die SPD ihre Wirtschafts-, Steuer- und Umweltpolitik an den Erfordernissen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls aus.
Die SPD anerkennt den Menschen in der Praxis als politisches Wesen und zielt bereits bei der Erziehung von Kinder und Jugendlichen darauf, dieses Wesen zur Entfaltung zu bringen. Auch Erwachsenen soll auf betrieblicher wie politischer Ebene hierzu verstärkt die Möglichkeit gegeben.
In der Außenpolitik strebt die SPD nach Anwendung der Tugend der Besonnenheit im Umgang mit Rußland und China. Die Erwähnung der komplementären Tugend der Tapferkeit bleibt aus. Hier besteht aus aristotelisch-thomistischer Sicht daher zumindest die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der Besonnenheit sich Feigheit in die Leitlinien sozialdemokratischer Politik einschleicht.
Die Pflege der intellektuellen Tugend der Weisheit spielt für die SPD keine Rolle.
Hinsichtlich der beabsichtigten sozialdemokratischen Schuldenpolitik kann man aus aristotelischer Perspektive geteilter Meinung sein.
Als die traditionelle Partei der Gewerkschaften überrascht es nicht, dass die SPD die Vermachtung des Arbeitsmarktes festigen will und keine Schritte in Richtung der aus aristotelisch-thomistischen Pespektive geforderten leistungsgemeinschaftlichen Ordnung anstrebt. Hier zeigt sich ein liberales Politikverständnis der SPD.
Mit ihrem, ihr Menschenbild zum Ausdruck bringenden, Erziehungsziel des selbstbestimmten, das heißt autonomen, Bürgers bewegt sich die SPD schließlich ganz in der Tradition Immanuel Kants, nicht in jener des Aristoteles und des Thomas von Aquin. Mit diesem Eintreten für eine formale, inhaltlich nicht bestimmte, Freiheit erweist sich die SPD endgültig als eine eigentlich liberale Partei, die ihre liberalen Ziele freilich mit sozialstaatlichen Mitteln zu erreichen sucht. Am ehesten wäre das Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2025 daher wohl als ein sozialliberales Wahlprogramm zu charakterisieren. Die größte Diskrepanz zwischen aristotelisch-thomistischer Perspektive und sozialdemokratischem Programm ergibt sich dabei in der Ehe- und Familienpolitik, in welcher die SPD eine konsequent individualistische, am individuellen Autonomiestreben (Erwachsener) ausgerichtete, Politik zulasten der Familie als Personengemeinschaft und des Kindswohls betreibt; in ihrer extremsten Weise sicherlich mit ihrem im eklatanten Widerspruch zum Naturrecht stehenden Betreben der Legalisierung pränataler Kindstötung.